Wie wenn man laufen lernen muss

Mit 15 Jahren ist Nalani Buob bereits die Nummer 1 der Juniorinnen-Weltrangliste im Rollstuhltennis. Sie bringt auch «Fussgänger» ans Limit, wie ein Selbstversuch zeigt.

Der Schweiss fliesst in Strömen. Nichts Ungewöhnliches für ein Tennistraining, aber doch eher speziell, wenn man bedenkt, dass ich erst eine Viertelstunde auf dem Platz stehe. Präziser: Ich stand die ersten zehn Minuten, jetzt sitze ich seit fünf Minuten im Rollstuhl.

Für einen kurzen Moment wenigstens will ich mich in die Situation meines Gegenübers Nalani Buob hineinversetzen. Der Trainer der 15-Jährigen, Thomas Waltenspühl, hat mir einen Tennis-Rollstuhl anvertraut. Schon die ersten Sekunden in diesem rund 6000 Franken teuren Sportgerät, das sich gegenüber einem gewöhnlichen Rollstuhl vor allem durch die schrägen Räder unterscheidet, machen mir klar, dass es viele Unterschiede zu der Sportart gibt, die ich seit Jahrzehnten ausübe.

Wir sind auf Höhe der T-Linie, und Nalani tut ihr Bestes, die Bälle in meine «Komfortzone» zu spielen. Diese Zone ist allerdings verschwindend klein. Sie beschränkt sich auf jene Zentimeter, bei denen ich mich respektive meine temporären Beine nicht bewegen muss. Sobald der Ball leicht mehr zur Seite fliegt, bin ich unweigerlich zu spät, der Versuch, den Rollstuhl in jenen Bereich zu bringen, in dem ich den Ball dann treffen kann, missrät mal für mal. Es hilft auch nur wenig, dass der Ball zweimal aufspringen darf.

Der Ehrenpunkt bei 0:6

Der Rollstuhl müsse immer in Bewegung sein, erklärt mir Waltenspühl, weil das Anfahren das Schwierigste sei. Unmittelbar nach einem Schlag sollte man sich mit einer Drehung um die eigene Körperachse in die neue Ausgangsposition bringen. Viel leichter gesagt als getan, zumal man auch mit der Schlaghand Schub generieren muss. In dieser befindet sich allerdings auch das Racket. Zum Abschluss der für mich als ehemaligen regionalen Spitzenspieler eher frustrierenden Kurzeinheit spielen wir ein Tiebreak: Bei 0:6 gelingt mir der Ehrenpunkt. «Es ist so, wie wenn man Laufen lernen muss», tröstet mich Nalanis Trainingspartner Stefan Poth, der seit einigen Jahren im Rollstuhl sitzt.

Nalani Buob lächelt. Die Linkshänderin aus dem zugerischen Baar wurde mit einer «spina bifida» geboren, einem offenen Rücken, einer angeborenen Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks. Als Kleinkind war sie auf Gehhilfen angewiesen, um sich fortbewegen zu können, im Kindergartenalter ersetzte sie diese dann durch einen Rollstuhl. Mit ihrem Schicksal hadert sie nicht, im Gegenteil, wie sie mit für sie charakteristischem Lachen sagt: «Der Alltag ist für mich kein Problem.»

Die Bewegungen im Tennis-Rollstuhl sind bei ihr längst eingeübt. Sie spielt seit dem 10. Lebensjahr, und die Fortschritte wurden immer grösser. Mit der vorläufigen Krönung 2016: Seit Oktober ist sie die Nummer 1 der Welt bei den Juniorinnen. Verändert hat sich für sie aber nicht allzu viel: «Erst als Thomas ein Über­raschungsfest für mich organisiert hat, habe ich es so richtig realisiert.»

Die Paralympics als Fernziel

Bei den Frauen ist sie bereits die Nummer 27 im ITF-Ranking und die klar Jüngste in den Top 50. Allein in den letzten sechs Monaten erreichte sie übergreifend 11 Finals und gewann Titel in fünf Frauenturnieren, der Schweizer Meisterschaft und bei einem Juniorenturnier. «Ich bin vor allem konstanter geworden und kann den Rhythmus besser wechseln als früher», ortet sie die Gründe für die jüngste Steigerung. Ihre beste Phase hatte sie im Juni an zwei Turnieren in Südafrika, als sie bei den Juniorinnen, den Frauen und im Doppel alle 19 Partien gewann. «Dort hat alles gepasst: Die Leute waren sehr herzlich, die Organisation perfekt, und ich habe gut gespielt.»

Ihr Fernziel sind die Paralympics 2020 in Tokio. Rund zehn Stunden wendet sie derzeit pro Woche für diesen Traum auf dem Platz auf, daneben absolviert sie neu in Nottwil mit den Leichtathleten ein Training für Ausdauer und besseres Handling des Rollstuhls. Ein geballtes Programm, neben der Sportlerlehre, die sie zusammen mit den Eishockeyanern der EVZ Academy macht, und ihrem zweiten Hobby, dem Geigenspielen.

Generell sieht man nur selten, dass es in den Clubs und Centern zur Durchmischung zwischen «Fussgängern» und Rollstuhlspielern kommt. Schade eigentlich, denn von einem solchen Training könnten auch ambitionierte Freizeitspieler profitieren. Nalani Buob beispielsweise spielt sehr sicher, macht fast keine leichten Fehler, erzeugt mit der Vorhand respektablen Druck und kann auch ein höheres Tempo mitgehen. Ins Schwitzen gerät man mit ihr nicht nur im Rollstuhl.

Zum Original Artikel: http://www.tagesanzeiger.ch/sport/weitere/wie-wenn-man-laufen-lernen-muss/story/30917079